Lügen über meine Mutter: Die Darsteller:innen
In ihrem Roman Lügen über meine Mutter zeichnet Daniela Dröscher das Leben innerhalb des Mikrosystems Familie berührend und empathisch nach, dabei oszilliert sie gekonnt zwischen der Komik und den Tragödien des Alltagslebens. Durch die explizite und schonungslose Beschreibung von Fettfeindlichkeit stellt sie äußerst gegenwärtige Fragen nach der Selbstbestimmung von weiblich sozialisierten Menschen und ihren Körpern.
Katharina Bill ist Regisseurin, Performerin und Fettaktivistin. In ihrer Inszenierung begeben sich nicht-professionelle Darsteller:innen in die Geschichte von Ela und ihrer Mutter. So entsteht eine Auseinandersetzung mit dem unterrepräsentierten Thema der Gewichtsdiskriminierung in Verbindung mit Misogynie.
Die sieben Darsteller:innen stellen sich hier in kurzen Videos vor.
Die Darsteller:innen
THEATERMACHERIN UND AKTIVISTIN
Ein Interview von Jascha Fendel mit der Regisseurin Katharina Bill
Katharina, du bist Schauspielerin, Regisseurin und Aktivistin. Kannst Du uns beschreiben, wie Du deine Arbeit am Theater mit Aktivismus vereinst?
Also grundsätzlich würde ich sagen, dass ich Theatermacherin bin. Das habe ich studiert, das sind meine Wurzeln, und es ist das, was ich machen will. Der Aktivismus hat sich so in mein Leben eingeschlichen. Gleichzeitig ist für mich meine Arbeit nicht trennbar von meinem Leben. Als Künstlerin will ich mich mit den Themen auseinandersetzen, die mich am meisten bewegen. Körperpolitik ist eines dieser Themen – Körperpolitik und die damit verbundenen Fragen nach Macht und Dynamiken innerhalb unserer Gesellschaft. Die Gewaltfreiheit oder die Minimierung von Gewalt gegenüber Körpern beschäftigt mich dabei im Besonderen. Natürlich ist das auch mit meiner eigenen Biografie verbunden. Es trifft außerdem mein Gerechtigkeitsempfinden und hat gleichzeitig ganz viel mit dem Theater zu tun. Theater ist traditionell ein Ort für sehr dünne und weiße Menschen; hier waren nicht-normative Körper in der Vergangenheit kategorisch ausgeschlossen. Und das gilt bis heute – egal, ob auf der Bühne in der Repräsentation oder in den entscheidungstragenden Positionen. Wenn Körper fehlen, also nicht sichtbar sind, wenn Menschen mit diversen Körpern auch nicht zu den Entscheider:innen gehören, dann wird sich auch unser Gesellschaftsbild nicht verändern. Ich möchte als Theatermacherin das Theater reformieren. Körperpolitik ist das Thema, über das ich am besten sprechen kann, weil es mich selbst betrifft. Es macht mich wütend – das heißt, die großen Gefühle, meine großen Gefühle, stecken da drin. Deshalb geht es immer um alles und nichts. Es ist immer existenziell.
Du hast uns, der Dramaturgie des Theaters Oberhausen, vorgeschlagen, Daniela Dröschers Roman Lügen über meine Mutter für die Bühne zu adaptieren. Wie kamst du zu dieser Idee?
Silke Merzhäuser, eine Dramaturgin, mit der ich zusammengearbeitet hatte, riet mir, das Buch zu lesen, woraufhin ich es mir sofort kaufte und an einem Tag durchlas. Ich war natürlich sofort begeistert, und wie es der Zufall will, hat mich Daniela Dröscher fast zeitgleich angeschrieben und gefragt, ob ich mit ihr an einem Panel am Deutschen Theater Berlin teilnehmen würde.
Silke Merzhäuser war beteiligt an der Produktion § 218 des Theaters Oberhausen und konnte mir über diese Arbeitsbeziehung den Kontakt zum Theater Oberhausen vermitteln. Ich habe das Theater im Vorfeld als ein diversitätsorientiertes Haus wahrgenommen, als ein Stadttheater, das eine Idee für eine Stadtgesellschaft hat. Deshalb war ich sehr glücklich, als erste Gespräche stattfanden. Daniela hat das Projekt von Anfang an unterstützt und war beim ersten Treffen ebenfalls dabei.
Ein Schwerpunkt Deiner Inszenierung sind die Themen Gewichtsdiskriminierung und Misogynie in einer klassischen Familie der 1980er Jahre. Das ist die Zeit, in der unsere Geschichte spielt. Was leitest Du daraus für die Gegenwart ab?
Ich bin ebenfalls in den 1980er Jahren, in einem kleinen Dorf und in einer kleinen Familie aufgewachsen. Meine Familie ist nicht so konservativ wie das in dem Roman beschriebene Milieu, aber es war – wie alle monogamen Ehen mit Kindern – ein patriarchales System. Man kann es als eine westdeutsche Spezialität bezeichnen.
Auf die heutige Zeit bezogen lässt sich feststellen, dass wir weitestgehend noch ein sehr klassisches Familienbild pflegen. Alle anderen Modelle werden als Alternative bezeichnet. Wir gehen also davon aus, dass die Ehe und die Kleinfamilie die guten Modelle sind. Es sind die Prototypen, von denen man abweicht. Mittlerweile gibt es natürlich viele andere Modelle des Zusammenlebens, aber das klassische Familienbild bleibt in uns verhaftet. Diesen Umstand muss man dann natürlich absolut hinterfragen.
Ich bin ein großer Fan des Buches Das Ende der Ehe von Emilia Roig und der Idee, in aller Radikalität Familie neu zu denken. Man muss anerkennen, dass die Konstruktion Familie für viele Menschen der Ort des Terrors sein kann. Viele, viele Familien sind für Kinder, aber auch für alle anderen Familienmitglieder, ein Ort des Terrors. Ich würde sogar den klassischen Patriarchen dabei nicht ausnehmen – auch er wird von dem Bild, das er erfüllen muss, terrorisiert. Besonders leiden aber natürlich die Kinder, wenn sie seelischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht zwangsläufig so sein muss. Es ist eine Struktur, die verengt gedacht ist, die, weil sie privat ist, sich einer sozialen Kontrolle entzieht. Vor allem – und das ist mein Hauptthema, das wird im Buch und dann auch in unserem Stück sehr deutlich – es impliziert, es sei das Wichtigste und das Beste für eine Frau, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. Leider wissen wir bei mindestens 300 Femiziden im Jahr allein in Deutschland, dass es das Schlimmste für eine Frau sein kann. Das Leben von Frauen wird allgemein tendenziell durch die Ehe schlechter. Es ist statistisch bewiesen, dass verheiratete Frauen im Vergleich zu nicht verheirateten Frauen Geld und Autonomie einbüßen. Geld ist ohnehin ein großes Thema: Frauen, die Vollzeit arbeiten, ohne Familie, ohne Kinder, verdienen tendenziell so viel wie Männer. Verheiratete Frauen mit Kindern verdienen mindestens 30, 40 oder 50 Prozent weniger. Das hat große Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf Altersarmut, Autonomie und Freiheit. An dieser Mutter-Figur aus dem Roman arbeiten wir uns deshalb ab – sie gibt es nämlich auch heute noch. Ich bin sie sogar selbst gewesen und weiß deshalb, wovon gesprochen wird.
Du hast außerdem beschlossen, mit nicht-professionellen Darsteller:innen zu arbeiten. Kannst Du uns deine Ausgangsidee einmal schildern?
In der Vorbereitung habe ich festgestellt, dass ich gerne mit mehreren Darsteller:innen arbeiten würde, die von Gewichtsdiskriminierung betroffen sind und sich aus unterschiedlichen Altersstufen zusammensetzen. Gleichzeitig ist natürlich die Kapazität eines Stadttheaterensembles begrenzt. Wenn es beispielsweise nur eine Person unter vielen gibt, die mehrgewichtig ist, dann wird das Problem automatisch individualisiert und auf ihren Körper projiziert. Dann denkt man: ‚Aha, sie ist fett und sie hat das Problem.‘ Aber wir haben alle zusammen das Problem einer fettfeindlichen Gesellschaft. Gleichzeitig habe ich als Regisseurin eine Leidenschaft für Inszenierungen mit Bürger:innen. Ich finde, dass sie auf unsere Bühnen gehören. Theater ist für alle da, und ich finde die Hierarchisierung überflüssig. Für mich gibt es keine Schauspieler:innen und Amateur:innen, sondern nur Menschen, die auf einer Bühne stehen. Ich bin auch großer Fan von amateurhafteren Momenten. Ich finde es spannend, wenn nicht alles perfekt ist. Auch im vermeintlichen Nicht-Können liegt eine große Kraft. Die Sparte Open Haus war dann ein richtiges Match. Hier werden regelmäßig Produktionen mit Bürger:innen gemacht.
Wir haben im Vorfeld für die Produktion Spieler:innen gesucht, die nun zu einem Ensemble zusammengewachsen sind. Was macht sie für Dich besonders?
Wir treffen auf ein Ensemble von sieben Personen, die alle sehr viel mit dem Thema anfangen können, die aber an ganz unterschiedlichen Stellen thematisch andocken.
Wir treffen Personen, die mit dem Thema Fettfeindlichkeit viel Erfahrung haben, in ihrer Kindheit oder deren Körper abgewertet wurden. Wir treffen Personen, die in Familien groß geworden sind, die der von Ela, also der Hauptfigur, sehr ähnlich sind. Und wir treffen auf ein alters- und körperdiverses Ensemble. Das heißt, es wird dem Publikum auch rein äußerlich die Frage gestellt, was Körperdiversität überhaupt bedeutet: Was nimmt man als Abweichung wahr und was nicht? Wir werden das nicht dezidiert thematisieren, die Körper, die auf der Bühne sind, werden nicht kommentiert. Aber jede:er Zuschauer:in kann sich selbst die Frage nach den eigenen Körperbildern stellen.