The Rest is History – Vorwort zur Spielzeit 2024/25

Jedes Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

GEORGE TABORI, JUBILÄUM

Wenn das Theater zum Erinnerungsort wird, entledigt sich Geschichte ihrer Linearität. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft füllen in Gleichzeitigkeit den Bühnenraum. In den Figuren verdichten sich individuelle Erinnerung und kollektive Geschichte. Große Erzählungen können gebrochen und neu erzählt werden. Unterdrückte, verlorene Perspektiven erhalten eine Stimme. Dokumentarisches und Emotionales verbinden sich im Bühnenmoment, der zugleich flüchtig und unendlich ist. Und in der Imagination werden die Fäden der Geschichte neu verflochten.

Die Spielzeit 2024/25 folgt der traumatischen Logik der Erinnerung – deutscher Erinnerung, regionaler Erinnerung, europäischer Erinne- rung. Sie träumt davon, Verletzungen und Wun- den behutsam zu versorgen. Häufig holen die Gespenster der Vergangenheit sie ein …

Ich möchte gerade im Kontext  von Kunst einen ästhetischen  Raum entstehen lassen, eine Art Theater des Verstehens, ein  Raum für Empathie, an dem wir  alle, zumindest für einen  Moment, teilhaben können.

JOHN AKOMFRAH, A SPACE OF EMPATHY

Wenn wir auf der Bühne Geschichten über die Geschichte erzählen, lassen wir die Wunden aufbrechen, nicht nur, um sie zu besichtigen, sondern um uns berühren zu lassen.

Der Schriftsteller W. G. Sebald hat eine „übers Mitleid hinaus weisende Mitleidenschaft“ be- schworen. Diese brauche es, um sich den Trau- mata der Vergangenheit zu nähern, das Weitermachen angesichts der eigenen und der historischen Schuld zu rechtfertigen.

Diese künstlerische Rekonstruktion ist auf dem Theater schmerzhaft und ermutigend zugleich. Ein sentimentales und emotionales Erinnern. Es lässt die Vergangenheit auf der Bühne lebendig werden, bewahrt und erneuert gemachte Erfahrungen, rekonstruiert Identität, sucht die Gegenwart zu verstehen. Was schleppen wir mit uns, was können wir abwerfen, wie wollen wir sein?

Welche Haltung nehmen wir ein zur aufgepeitschten Gegenwart, zu krisenhaften Entwicklungen, Gewalt, Polarisierung und einer Logik, die reflexhaft Eindeutigkeit verlangt?

Die Qualität des Theaters ist weniger der Reflex als die Komplexität. Theater weitet den Raum ins Ambivalente, es ermutigt das andauernde Gespräch auch im Widerspruch. Es versammelt Menschen in Vielstimmigkeit mit ihren unterschiedlichen Geschichten. Darin positioniert sich unsere Kunst klar in der Gegenwart: Im Ja zur offenen Gesellschaft, zur Annäherung. Eine Haltung, die in der aktuellen Bedrängnis der Demokratie auch jenseits künstlerischer Positionen sichtbar zu machen sein wird.

Verbrecher kehren für gewöhnlich an den Ort ihres  Verbrechens zurück. Gelegentlich auch die Opfer.

GEORGE TABORI, JUBILÄUM

Im Jahre 2025 jährt sich das Kriegsende zum 80. Mal. Eine Befreiung von uns selbst. Ein Jubiläum, das zum Feiern einladen sollte: zum Feiern von Demokratie, Menschenrechten, Liberalität. Aber schon in den Jahren nach 1945 war mehr Kontinuität als Bruch, mehr Anschluss denn Abrechnung. Mehr Verdrängen denn Betrachtung. Beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1963 wurde den Tätern zugejubelt, fast 20 Jahre nach Kriegsende.

Die Kontinuität und weitere Verzweigung brauner Ideologie wird derzeit deutlicher denn je. Die Täter von einst sind Teil unserer deutschen Familiengeschichte, Teil von uns. Heute müssen jüdische Menschen in Deutschland wieder Angst haben. Der Antisemitismus nimmt immer neue Formen an. Der deutsche Aufarbeitungs-Furor hat uns zudem selbstgerecht werden lassen. Manch moralischer Überschwang speist sich aus der DNA der Täter.

Trägt das Theater dazu bei, aus Erinnerungskultur eine Kultur der Empathie zu machen? Wenn wir auf der Bühne zu den Orten des Geschehens und zu individuellen Geschichten zurückkehren, dann kann es gelingen, zu begreifen und zu trauern.

Keiner hat es besser verstanden, das Theater zugleich zu einem Purgatorium wie einem Ort der Versöhnung werden zu lassen, als der große George Tabori: In seinem Stück Jubiläum wartet die Figur Arnold Stern jeden Tag auf die Rückkehr seines in Auschwitz ermordeten Vaters. In der letzten Szene erscheint dieser dann tatsächlich – als Geist. Und nährt die vergeblich-verzweifelte Hoffnung, dass man in den Öfen von Auschwitz „Brot gebacken habe und keine Väter“. Das Theater kann Geschichte nicht revidieren, aber zwischen groteskem Humor und Anerkenntnis des Schmerzes tröstet es und erfindet die andere Welt – die, in der wir leben wollen.

Das Theater ist in die Zukunft gerichtet, ein Engel der Geschichte: Es sucht die verstreuten Teile zusammen, ohne sie zu kitten. Es nimmt das Scheitern zum Anlass, uns neu zu erfinden. Freier als der Engel könnten wir besser werden oder zumindest klarer sehen – daran glaubt das Theater in seinem Blick zurück nach vorne. Weil wir in der Lage sind, zu gestalten, sind wir auch in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen für die Zukunft. Jeder Schritt auf der Bühne ist eine bewusste Entscheidung, jeder Satz wird auf eine entschiedene Weise betont, jedes Bild ist eine Setzung. Wir schreiben immer Geschichte und machen Gesellschaft, und wir können es anders machen. Und so will die Spielzeit Varianten für unsere Gegenwart und Zukunft entfalten.

Wir laden Sie herzlich ein ins Theater Oberhausen – in eine herausfordernde Gegenwart, aber eine lebendige!

Ihre
Kathrin Mädler
Intendantin
& das Team des Theaters Oberhausen